Kinderbuch


===========================================================-

So kleine Händchen und Füßchen hattest Du noch nach 8 Wochen kleine Juliane, und heute beginne ich mit diesem Heftchen. Ich schau auf die Uhr. Es ist 5 Minuten vor halb 2. Um punkt 2 genau vor 8 Wochen hob Dich die Schwester empor und sagte mit sudetendeutschem Charme und beruflicher Liebenswürdigkeit: „Ein wunderhübsches Mädchen!“ Diese Meinung teilte ich als Mutter nun weniger, aber ein sichtbares Wunder was das kleine Wesen, was das kleine Wesen, was da . . . . .

violett-blau in der Schwestern- hand hing. Ich staunte es an, war mir aber bewußt, an der Vollendung dieses kleinen Kunstwerkes immerhin nur recht unbewußten Anteil gehabt zu haben. Und die Uhr, die die zwölf Schmerzensstunden im Schneckentempo gekrochen war, lief über die nächsten Wochen erheblich schneller hin. Julianchen trinkt, schläft, verbraucht Windeln, schreit und wächst. Sie bekommt kleine Barockbäckchen. Sie wird wirklich süß. –

So niedlich, daß der Papa sie oft lange spazierenträgt, besonders am Abend, obwohl es ja nicht erziehlich sein soll, die Rabenmutter, wie der Vater empört feststellt, läßt das Kind, das doch so gern trinken möchte, oft stundenlang schreien, obwohl sie das genug hat. Sicher nur um ihre scheußlichen Bilder zu malen.- gegen Fotografieren hat sie eine Abneigung. Sie schneidet dann immer gräßliche Gesichter, zumindest streckt sie die Zunge raus. Manchmal verzieht sie den kleinen Mund schon zu einem Lächeln, meist bei unpassenden Gelegenheiten, z.B. wenn sie Bauch-

schmerzen hat. Ihre Äuglein werden immer größer und runder. Sie folgen den vorbeigehenden Gestalten aufmerksam und neugierig. Man sieht, daß sie schwer geistig arbeitet, um ihre Umwelt zu ergründet.- Am Anfang hatte sie die Blickrichtung noch nicht geordnet. Jedes Auge lief seinen eigenen Weg mit einer Geschicklichkeit, die man erst später mühsam wieder erlernt, um Lehrer zu ärgern.In der Klinik hatte die Schwester sie einmal in meiner Abwesenheit in mein Bett gepackt.- Als ich zurückkehrte, lag in den großen Kissen ein ganz eingewickeltes kleines, hungriges Etwas, mit wütend zusammengezogenem Mündchen, . . . .

einer tiefen Zornesfalte auf der Stirn und stur auf die Nasenspitze schielenden Kulleraugen.- Ja, das passiert jetzt nicht mehr, Juliane. Gottseidank,- dafür dringt Dein Geschrei durch alle Mauern, stört totsicher jeden Schlaf, gibt aber die beruhigende Gewissheit, daß Du erstklassige Lungen hast, Du hast bei der Geburt 5 einhalb Pfund gewogen und warst 50 cm lang. Nun wiegst Du 4 Pfund mehr mißt …Du bist Papas Liebling.- wenn er Dich wickelt. Machst Du Deine Windeln ihm zuliebe besonders voll. Dann geht Ihr frohgemut spazieren .

Juliane geht spazieren — Das ist eine wahre Nordpolexpedition, nicht in der Himmelsrichtung sondern in den Vorbereitungen. Bis sich Papa, Mama und Oma über den Zeitpunkt der Abreise einigen können, setzt es mindestens bei der Mama Wuttränen, da Papa niemals mit einer angefangenen Beschäftigung aufhören kann. Schließlich ist Baby eingepackt, der Wagen ist geputzt und hinuntergeschafft.- Es geht wirklich los ! D.h. Mama und Papa lustwandeln unter den Blütenbäumen, und Oma läuft im Sturmschritt über die Wege.

Da der Park nur eine beschränkte Größe hat, überrundet Oma ab und zu das Ehepaar und saust mit freundlichem Gruß vorbei. Bergauf muß sie stemmen und pusten, dafür läuft der Wagen bergab um so schneller allein, und Oma muß sich sputen, ihn einzuholen.- Juliane strahlt, Papa knipst, rings blühn die Obst- und Mandelbäume. – Überall ist Frühling !- Heute bekommt Juliane die erste Flasche, Oma verkündet das Rezept der Milchmischung, das steht fest seit Adam und Eva, und niemand wagt daran zu zweifeln , Papa übernimmt den Sauger, d.h. Er muß ein Loch hineinpieken, d.h. an der richtigen Stelle und in der richtigen Größe –

eine gewaltsame Öffnung an der Seite besorgt schon Oma, als sie den Sauger über die Flasche zieht – so endete nämlich der erste,- der zweite wurde von Papa untauglich gemacht, der ein Riesenloch mit Mamas Stickschere hineinschnitt, um der armen kleinen das Trinken zu erleichtern.- Leider landete die Milch im Hemdchen und nicht im Magen.- Der dritte Sauger, Marke Extrafest hat ein vorschriftsmäßiges Loch aus der Fabrik mitgebracht,- nur ist er so stabil, daß eher die Finger und der Flaschenhals abbrechen, als daß er sich zur gewünschten Größe ausweiten läßt.- Aber endlich ist es geschafft, – dreimal wurde die Milch zur rechten Temperatur aufgewärmt und abgekühlt,- nun liegt Juliane seelig nuckelnd und die Uhr schlägt Mitternacht.

Die Milliflasche bekommt Juliane so gut, daß sich ihre Bäckchen runden bis sie über die Breite des Kopfes hinausragen. – Schön ist das grad nicht, aber es soll gesund sein.- Das sagt wenigstens Julianes Kinderfrau,- Es ist eine richtige ältere rundliche Kinderfrau, die wunderbare Geschichten zu erzählen weiß und in so sanft singenden Tönen lockt und spricht, daß Juliane lange vor der amtlich festgesetzten Zeit lacht und giegt, Papa ist wirklich eifersüchtig.- Insgeheim lauscht er den Tonfall, und nun sitzt er jeden Abend an Julianes Bettchen und flötet:

„Mein Schmierfink, mein kleiner Dreckdampfer, – mein Sch– ßerchen“ und Juliane lacht, kräht und zappelt mit Armen und Beinen.- „Julchen ist nun wirklich groß, pfiffig fett und tadellos!“ – Mit festen Gliederchen, runden Bäckchen, großen erstaunten immer noch blauen Augen und langen Wimpern. Nur die Haare sind kümmerlich höchstens 1 einhalb cm lang und von einer undefinierbaren Farbe. Sie lacht oft und gern, sogar wenn sie allein ist, die Fingerchen werden studiert und eifrig abgelutscht und nur zufällig zum Greifen verwandt. Am Abend bekommt sie regelmäßig Bauchschmerzen

und brüllt schmerzlich, was auf den Papa keinen guten Eindruck macht, da er ja nur um diese Zeit zu Hause ist,- Heute erblickte sie sich zum ersten Mal bewußt im Spiegel. Sie wurde sehr ernsthaft und gukte – gukte — Einviertel Jahr und 2 Wochen beschaut sie nun schon den Erdball -Neue Waffen werden erfunden, Invasionen rollen ab. Für Juliane gibt`s nur : „Wärme , Sonne, Milch, frische Windeln und abends das Bad, das immer noch etwas unheimlich ist.

Juliane ist in Neuendorf. – Neuendorf die Heimat der Familie.- Sehnsucht in langen dunklen Wintertagen nach dem Lied der Wellen, die über den hellen Sand schäumen, nach dem weiten, weißen Strand und dem hohen Wald um die betaute Wiese am Haus. Die Reise war lang und anstrengend . Sie schlief und trank fast garnicht, schwitzte mit dunkelrotem Kopf und war doch stets guter Laune. Gott erhalte ihr das liebenswürdige Temperament. Nun steht sie den ganzen Tag in der freien Luft, die Windeln werden gleich im Meer gespült, und in kurzer Zeit sind sie trocken geweht. Mein Gott , wenn wir

stundenlang so strampeln würden wie Juliane bei 5 Milchbreimalzeiten am Tag , so wären wir nach spätestens 48 Stunden sanatoriumsreif. Sie aber freut sich ihres Lebens, die kleine Base Ingelin steht an ihrem Wagen und packt alles hinein was sie findet . Sie trippelt von einem Bein auf das andere, am liebsten möchte sie hineinsteigen. Juliane hat den Daumen in den Mund gesteckt und schläft . Der Wind weht warm über Meer und Sand, und kleine Wellen plätschern zu dem Strand , bringen ihr weiße Muscheln und ein goldklares Srück Bernstein und rauschen ihr das Schlaflied.

Deine Mutter schon , kleine Juliane, wurde auf der Wiese unter den großen Bäumen getauft. In diesem Jahr 1944 kamen zufällig so viel Tanten und Onkel , vor allem Tanten, in das Seehäuschen, daß Julianes Taufe ein Familienfest wurde. – Alle Kinder tragen Blumenkränze in den Locken, ihre hellen Kleider schimmern überall zwischen den Bäumen , wo sie Zweige für den Kaffeetisch pflücken.- Julianes langes weißes Taufkleid ist mit roten Nelken besteckt. Sie breitet die Ärmchen vor Staunen aus und wagt nur sehr vorsichtig, die Blumen anzufassen.

An der Gartenpforte fahren die Wagen vor. Eine Kutsche für die älteren Leute : Opa, Oma, Frau Johannes und Tante Elli (Tante Inge sitzt noch auf dem Bock). In einem Kremser fährt die Jugend : Mutter, Vater, Tante Marga, Annemarie, Renate, Peter, Hansi, Rune, und Wilmut. Der Wind weht durch das Korn, dicke weiße Wolken ziehn hoch in der Bläue, Blumen nicken am Wege, und Schwalben zwitschern auf den Telegrafendrähten : „Juliane fährt zur Taufe!“ Und die Sonne zaubert ihr ein Strahlenkrönchen in die Häarchen.



Unter den hohen Bäumen vor der Kirche sammelt sich die Familie, Juliane blickt mit großen , klaren Augen um sich, als sie durch die brausenden Orgeltönen zum Altar getragen wird und blickt den Pastor ernsthaft an, als er feierlich spricht, und die Wassertropfen auf ihre Stirn fallen läßt. Dann steht Mutter, das Köpfchen von Juliane still ans Herz gedrückt allein am Altar, und der Segen des Himmels senkt sich auf beide herab. – In diesem Augenblick sind sie allein mit Gott.- „Als dich heut der Prister gesegnet, vor Gottes herem Altar, da standen um Dich versammelt,

deiner liebsten Menschen Schar.“- Als die heiligen Worte ertönten, da stimmten sie leise ein. Und es sank ihre zärtlichste Liebe voll auf dein winziges Sein. Doch hinter den Lebenden stand noch ein anderes unsichtbares Rund, – die schlossen dein künftiges Leben in einen weit geöffneten Bund.- Der beiden Ahnen Geschlechter,- und hat sie auch keiner gewahrt, es waren Männer und Frauen von edelster deutscher Art. – Und wenn ich dir heut etwas wünsche, so wünsch ich dir :“Werde wie sie!“ Bleib stark auch im schwersten Leide und beug` Dich vor Menschen nie ! Beug` dich nur vor dem Herrgott dort oben ,der schützend stets über dir steht, und handle nie anders im Leben, als wie dein Gewissen dir rät,

werd so wie dein Ahne, der einstens dies Haus hier vorsorgend gebaut, sei fröhlich und schau auf das Leben , so lachend, wie er es geschaut. Dein Aug´sei dem Schönen stets offen, dein Herz sei wie seines so gut , dir wachte wie ihm grad im Kampfe die Tat und der handelnde Mut, Gott schenk dir die fleißigen Hände , der Frau, die ihr Heim einst hier fand, die im Kreise ihrer Kinder und Enkel als leuchtender Mittelpunkt stand, deren Aug´auch das kleinste erschaute, deren Herz für das Große so weit, die unerschüttert im Glauben. In Deutschlands dunkelster Zeit. Das Haus, das dich heute behütet, es ist ihrer beider Haus, es wird auch dich immer erwarten, ziehst Du auch ferne hinaus

Der Geist, der sie beide durchglühte, leb in Kindern und Enkeln fort : “ Auch die Toten sollen leben!“ So klang einst der Ahnherrn Wort.Durch den hellen Sonnenglanz bringen die Pferdchen all die glücklichen Leute wieder in das Seehaus. Weißgedeckte Tische warten mit Kaffee und Kuchen, und jedem bringt der Opa ein Glas Wein. – Ernste und heitere Reden klingen bis auf die Wiese, wo die Kinder tafeln und lärmen. Allmählich schimmert die Sonne rot-golden durch die Zweige,- während sich der Tag und das Fest dem Ende zuneigt, schläft Juliane schon lange tief und süß unterm großen Jasminstrauch.-

Prag, den 6. Oktob. Liebe Oma ! Heute bin ich 7 Monate alt und es ist gut, daß ich nun über den Rand des Körbchens sehn kann, denn es ist zu langweilig, immer auf dem Rücken zu liegen. Nun kann ich also auf Papas Schreibtisch gucken, da habe ich schreiben gelernt. Mutti hat doch wenig Zeit dazu, weil sie soviel beim Doktor ist. Wenn ich nicht schlafe, treibe ich Gymnastik, indem ich aus den festesten Windeln zoggele, dann friere ich und schreie und stehe vor Wut auf dem Kopf. Mein Wäscheverbrauch ist kolossal. Mutti sagt, ich sei ein Stinktier und ein Springbrunnen. Das nennt man Liebe !- Abends

bekomme ich so schönen , roten Saft, daß ich meiner Mama den Gemüsebrei um die Ohren spucke dann schimpft sie, das macht Spaß ! Meine Haare sind beinah 3 cm lang, nur am Hinterkopf habe ich eine kleine Tonsur gelegen. – Ich fahre Mama mit den Fingern in Nase und Augen und zieh sie an den Haaren, dann schneidet sie so lustige Gesichter,- Das macht Spaß ! Vati ist im allgemeinen sehr wenig zu Hause. Nur am Sonntag, da liegen wir lange zusammen im Bett, (Mutti muß natürlich Frühstück bereiten), dann beiß ich ihn zur Abwechslung in die Nase. – Zum Schluß mach ich ihm das Bett voll, dann schimpft er und steht auf. Wenn ich mich auf die Knie und Hände

stütze, fahre ich mit Ruckser durch die Wohnung. Ich habe 3 Wachstuchtiere, die stecke ich abwechselnd in den Mund, und einen Hampelmann, den ich ableckte , da war ich ebenso bunt wie er,- Mutti gibt mir ab und zu einen Keks, aber leider nicht in die Hand, da ich das Bett zu schön bemalte. Wenn die Sonne noch scheint, gehn wir im Park spazieren, d.h. Mama sitzt auf der Bank und stopft meine Jäckchen und ich steh am Wegrand und beschau die vielen Kinderwagen, die so zahlreich sind wie die gelben Blätter, die nun von den Bäumen fallen. Einen dicken Kuß Juliane

Prag, den 20. Oktober Liebe Oma ! Das Schreiben ist doch recht schwer. Seit 2 Tagen sitze ich ganz allein. Etwas wacklich ist es zwar, und Mutti lacht und sagt, ich sehe aus wie ein Klammer- äffchen, das man vergessen hat. Wenn sie mich windelt singt sie schöne Lieder, z.B.: Puppilein,Puppilein, du bist mein kleines Faß, du ißt so gerne Suppilein, und machst so gern dich naß, Puppilein, Puppilein, Du bist mein kleines Nuckelschwein ! “ Ist das nicht hübsch ? Nun habe ich ein Bettchen bekommen, aber ich bleibe mit den Füßen in den Stäben hängen und mag es über- haupt nicht leiden und brülle fürchterlich. 10 Tage später – Seit 4 Tagen habe ich plötzlich 2 Zähne unten, und seit 2 Tagen stehe ich im Gitterbettchen

Seitdem wächst mein Mut. Ich leide es nicht, wenn Vati Mutti küßt, dann brülle ich, nur das Badewasser ist mir doch etwas unheimlich. Angst habe ich natürlich nicht – aber – aber Deine Juliane

Prag, d. Liebe Oma ! Jetzt darf ich meinen Keks allein essen. Jedes Krümelchen suche ich sparsam auf. Nur das Gesicht bekommt einen Extrateil als Kriegsbemalung ab. Wenn Besuch kommt, steh ich am Bettrand und horche auf jeden, der spricht, und wenn er lacht, lache ich mit, dabei leg ich den Kopf schräg zurück,

Papa sagte da :“ Du siehst aus wie ein Huhn, das trinkt. Meinen Brei eß ich ganz sauber , Mutti singt, wenn sie den Teller bringt : „Ei.ei,ei, nun kommt der Brei, – Hurra, hurranhurra, nun ist der Brei schon da!“ Auch stecke ich meinen Finger nicht mehr in den Mund. Dafür leg`ich nach Möglichkeit meine Füße auf den Tisch. Mutti meint : „Entweder ehrst Du die Amerikaner durch diese Geste, oder besser umgekehrt : Man sieht, welch infantile Eigenschaften dies Volk hat, – Deine Juliane

Prag,den Liebe Oma ! Meine Flasche halte ich nun schon alleine. Die oberen Zähnchen bereiten mir viel Kummer, auch sonst ist das

Leben schwer. Sag mal, magst Du Kartoffeln ? Ich finde sie scheußlich . Jetzt setzt man mich jeden Tag auf ein hübsches Glastöpfchen , erst brüllte ich und rutschte runter, dann baumelte ich mit den Beinchen und gab mir alle Mühe, es nicht zu beschmutzen.- Dann setzte mich Mutti aufs Sofa, um die Windel zu holen, nun konnte ich dort in Ruhe mein Bächlein verrichten. Gestern kam ein kleiner Junge zu Besuch. Er ist 1einhalb Jahr älter als ich. Er ist sehr lieb und fand mich auch nett, nur wunderte er sich, daß ich noch nichts erzählte. Baden macht mir mehr Spaß, doch ich stehe lieber darin, als daß ich sitze. Vati hat eine schöne große Nase, da beiß ich ihn so gern

hinein oder ich reiß ihm die Brille herunter. Er hat aber selber Schuld. Am Sonntag saß ich brav Daumenlutschend in einem neuen Strickkleid und beobachtete den Vati, da sagte er lachend :“ Du siehst aus wie ein Kaffeewärmer !“ und Mutti lachte auch. Ich mag gern, wenn sie lacht, darum drück ich so oft es mir möglich ist, ein Würstchen in das Glastöpfchen, weil sie sich mit soviel Geschrei freut. Von der Wickelkommode fall ich nicht noch einmal. Ich weiß jetzt, wie tief es hinunter geht.- Und am Gitter von meinem Bettchen lauf ich schon ganz schnell entlang.- Nun ist bald Weihnachten, und ich schreibe den Brief schnell zu Ende.-

Am Nikolaustag zog mir Mutti ein langes Kleid an und band mir ein goldenes Band um den Kopf (es rutschte mir immer auf die Nase). Auf dem Rücken befestigte sie Papierflügel, da sollte ich Engel spielen. Aber Vati hatte mal wieder eine Panne mit dem Auto. Da wanderte ich ins Bett und Vati bekam nichts geschenkt. Der Weihnachtsmann hat auf dem Flur einen großen Baum gestellt.- Die Eltern klebten am Sonntag bunte Sterne mit Strohstrahlen, und ich lachte sie an , wenn sie mich riefen. Ab und zu duftet es nach Kuchen im Haus, und vor dem Fenster flattern ein paar feine Schneeflöckchen vorbei Deine Juliane

Liebe Oma! Prag d. 26.12.44 Das Schreiben fällt mir etwas schwer, ich muß mir nämlich ständig die Nase putzen, da ich scheußlichen Schnupfen habe. Außerdem bekomme ich meinen vierten Zahn. (Er guckt schon raus) das stört die Stimmung beträchtlich.- Nun will ich dir vom heiligen Abend erzählen.- Wir hatten unsere schönsten Kleider angezogen und saßen still im Zimmer. Es wurde immer dunkler. Plötzlich ging die Tür auf, und der große Tannenbaum stand da. Schimmernd von Kerzen und Silber.- Kringel, Äpfel und Glaskugeln hingen an den Zweigen, und an der Spitze leuchtete ein Stern. Mutti las das Evangelium vor, und wir sangen

Weihnachtslieder (ich auch) dann sagte Mutti das Familiengedicht auf :

Wenn der Tanz der Horen hat den Tag vollbracht,

Finsternis geboren, steigt herauf die Nacht.

Golden Frieden gießt sie uns in jedes Herz,

Tages Müh` beschließt sie, weist uns himmelwärts,

Aber die ich meine, Nacht so wunderbar,

Die ich lieb wie keine, bietet heut sich dar,

Weihnacht ! – Wilde Triebe fliehen, wo Du bist,

Da heut Gottes Liebe Mensch geworden ist,

In der niedern Krippe liegst Du Jesus Christ,

Der Messias Heiland heut` geboren ist !

Weihnacht, 1000 Schmerzen werden heute lind,

Millionen Herzen machst Du wieder Kind,

Breite deinen Segen über alle aus !

Friede aller Wegen, Friede diesem Haus ! Ur-UrgroßvaterBrock.

Endlich konnte ich meine Sachen ansehen. In der Mitte lag ein dicker roter Apfel, rings herum viel gelbe Kekse, und darum wieder Tiere aus Wachstuch und Holz und 2 paar Schuhe. Eins war von Tante Inge. Nun habe ich erstmal genug zu tun, alles zu zerrupfen. Mutti und Vati haben sich vor allem Bücher geschenkt.- Mutti zeichnete mich und schnitzte eine Schale. Vati trieb für Mutti ein Stück gute Seife auf. Wir waren alle sehr vergnügt. Ein Onkel und eine Tante waren zu Besuch, und alle aßen sehr lustig am runden Tisch. Ich wurde natürlich schlafen gelegt und sah den großen Plumpudding nicht mehr (Mutti sagte, im Frieden brennt er, dann sind auch mehr Eier drin) und hörte

f

nur die lustigen Reden, sodaß ich lange vor Aufregung schrie.- Später in der Nacht wurde mein Bettchen ins Weihnachtszimmer geschoben, und ich lag lange still wach.- Der Baum erzählte mir von seinem Wald,- und alle Tiere und Geschenke sagten mir woher sie kamen. Es duftete nach Kerzen und Kuchen, und schließlich krabbelten die 2 Barockengel von der Wand herunter und tanzten um den großen Stern.-Da bin ich eingeschlafen. Viel Küsse Deine Juliane Prag d.28.12.44 Liebe Oma ! Nun ist es bitterkalt geworden. Die Sonne steht wie eine rote Scheibe im Nebel. Der Park ist glitzernd

weiß vom Rauhreif. Auf den Zweigen sitzen die Vöglein und frieren – dunkle aufgeplusterte Punkte.- Mutti geht nun mit mir spazieren, weil ich nicht mehr am Fenster stehn kann.- Vati kommt erst abends. Er ist sehr lieb. Er setzt mich ja nicht aufs Töpfchen oder füttert Gemüsebrei.- Jeden . Mittag heult die Sirene.- Es ist so häßlich, daß ich auch heule.- in den Keller gehen wir aber selten, weil es so kalt ist.- Dann hören wir hoch droben den Tomy wie böse Hummeln brummen : “ Wartet, bald kommen wir auch zu Euch und schlagen alles kaputt und tot.“ Und die Stadt schweigt ängstlich. Nur manchmal schimpft ein Flakgeschütz gegen diese silbernen Taubenschwarm am blauen Himmel, aber es klingt dünn, und die Hummeln lachen häßlich.-

Ich spiele jetzt am liebsten mit meiner Spucke, davon habe ich genug, seitdem ich mein drittes und viertes Zähnchen bekomme. Entweder lehne ich den Kopf übers Gitter und spucke solange hinunter bis ein kleiner See auf dem Parkett entsteht (Vati freut sich so). Oder ich leck` das Gummi ab und zieh dann mit dem Finger lange Fäden, oder ich male schöne Bilder davon.- du siehst, man muß nur Ideen haben. Nun müssen wir auch am Sonntag früh aufstehen.- Vati ist Volkssturmsoldat geworden. Er marschiert stundenlang um Prag und singt, manchmal muß er auch in der Woche zum Dienst, weil der ganze Haufen so schlecht gesungen hat. 1000 Grüße deine Juliane

Prag den 2.1.45 Liebe Oma ! Am Silvesterabend bin ich eingeschlafen und im neuen Jahr als die Sonne ins Zimmer schien, erst wieder aufgewacht. Ich habe garnichts besonderes bemerkt.- Vati und Mutti hatten Besuch, und alle waren sehr lustig.-Aus einer Flasche Rotwein wurde ein großer Punsch in einer Familienkaffeekanne gebraut. Ein Onkel legte die Karten und las die tollsten Schicksale aus den Handlinien,- alle waren aufgeregt und glaubten es andächtig. Eine Tante Schau-spielerin sagte Gedichte auf, und alle Onkels machten ihr Augen.- Am nächsten Morgen sagte ich zu Vati, als er mir „Mama“ vorsagte zum ersten mal ganz hell und leise : „Dada,dada“ Deine Juliane

Heute, am 14. Februar strahlt die Sonne nach langer Kälte zum ersten Mal warm vom blauen Himmel. Jaroslava geht mit Juliane eine halbe Stunde spazieren und es ist der Mutti nicht recht, daß sie so bald wieder kommen. Juliane bekommt nun ihr Essen und wird schlafengelegt.- Als Mutti dann auch ihren Teller wegstellt, heult die Sirene – „Soll man in den Keller gehen?“ Das Radio spielt ja noch. Langsam öffnet Mutti die inneren Fensterflügel vom Schlafzimmer und schaut auf die Straße. Überall starren die Leute hinauf. Motorengeräusch von einem Tiefflieger.- Am blauen Himmel

steht ein Rauchzeichen.- Plötzlich läuft ein Mann zickzack gebückt in Deckung.- „Gefahr!!“ „Mein Gott“ – Mutti stürzt ins Nebenzimmer zu Juliane.- Ein Bombenschlag ! – Scheiben klirren – Ein Zweiter ! – Schmutz und Scherben sausen. – Da ist Juliane endlich fest gepackt – in den Flur in den Schutz der Schränke. Eine Wand von Splittern, dunkelbraunem Schmutz und Kalk saust vorbei durch zum Treppenhaus.- „Bebt das Haus? Fällt es zusammen?- Soll das das Ende sein ??“ Geht es schnell und ganz ruhig durch Muttis Kopf.- Plötzlich Ruhe ! Unter Glasscherben liegt der Wohnungsschlüssel – Durch den dicken , braunen Dunst

zur Treppe. Juliane ist still, die Frauen in der Nachbarwohnung schreien ! „Ruhe ! – Es ist ja alles vorbei – steht die Treppe noch ? “ – „Ja“- Auf der untersten Stufe zittern die Beine. Juliane weint nun leise. Mutti summt ein Kinderlied. – Da lacht sie, und auch alle anderen werden ruhiger.

Ein alter Mann jammert leise:“Meine Frau ist tot, sie wollte nicht in den Keller gehen, und nun ist sie tot !“ Eine Mutter wiegt ihr drei monate altes Kind, das im Gesicht verletzt ist,- auf dem Gang liegt eine verwundete Frau und heult. – Das Nachbarhaus ist zusammengekracht, und in vielen Straßen brennt es. – Entwarnung ! – Juliane wartet auf dem Arme der Bäckerfrau bis Mutti die Scherben und

und den dicken Schmutz aus dem Bettchen geputzt hat. Sie war still und lieb in dieser Stunde, aber noch in vielen Nächten fährt sie plötzlich weinend aus dem Schlaf empor. Prag d. 7.3. 1945 Gestern feierte Juliane ihren ersten Geburtstag. Da sie nach dem Angriff einige Zeit bei Tante Antje und Frau Gamska, stattet sie Pstrosgasse 16 nur einen Besuch ab. Die Zimmer sind noch zu schmutzig, und durch die Pappfenster pfeift der Wind, trotzdem ist die Geburtstagsfeier herrlich. – Viele Tanten sind gekommen. Tante Antje, Tante Doktor Humplik, Tante Raunert, alles Freun-

dinnen von Juliane. Jeder bringt ein Spielzeug mit und stellt es neben die rote Kerze wo schon ein großer Elefant, ein schwarz-weiß rotes Pferdchen, bunte Klötzchen, eine Blume und ein Teller Keks stehen. Gemeinsam futtern sie die frischen Buchteln.- Juliane ist der Mittelpunkt. Sie lacht alle an, tobt herum und sucht unter allen Sofakissen ihr Bilderbuch. Abends schreit sie noch lange vor Aufregung. Ja, nun ist sie ein Jahr und mächtig groß geworden. Die Stubbelhaare sind geschnitten, und ihr Gesicht ist ausdrucksvoll und bewegt. Vor allem interessiert sie die Sprache.- Sie ahmt den Tonfall der Reden nach und kreischt nicht mehr wie ein ganzes Papageienhaus. Schwer fällt das Stillsitzen besonders beim Essen.- Wozu auch ?

Aus Kissen baut sie sich Häuser, dann geht sie drei Schritte frei und macht einen Kopfsprung in das Deckbett.- oder sie spielt – Kuckuck dada, zwischen den Stäben mit Papa. Sie langweilt sich nie : Mutti zieht sie die Schürzenbänder auf, alles was sie erreichen kann, zerrt sie ins Bett,- einmal war´s Muttis Nähkasten, und alle Pike-Pike steckten in ihrem Strumpf, – dann reißt sie Muttis Hyazinten, die gerade blühen wollen, herunter (das Blühen ist ihnen danach vergangen)- der Kitt von den neuen Fensterscheiben wird in die Kissen geschmiert.- Am liebsten klettert sie über die Betten der Eltern und fällt dabei nicht mehr hinaus, nur wenn sie an die Nachtische geht,(wo doch so interessante Dinge stehn)

sagt Mutti :“Du-du“, und sie zieht sich vorsichtig zurück (wenigstens solange Mutti noch im Zimmer ist) Hört sie Muttis Schritte, husch, schnell wieder auf dehn schmutzigen Topf gesetzt mit dem sie doch nicht spielen darf. Leider sind Händchen und Umgebung braun. Sie kann sich eben schon helfen. Mutti sagt:“Schlafi, schlafi“, dann hält sie das Händchen vor das Gesicht und blinzelt mit einem großen Auge herüber, so ist sie doch sicher unsichtbar. – Am Sonntagmorgen hopst sie in Mamas und Papas Bett, setzt sich mit der blanken Achterseite auf Papas Gesicht und denkt:“ Götz von Berlichingen !“ Obertraun , den Liebe Oma ! Ob Dich deser Brief wohl erreicht ? Seit ich Dir geschrieben habe, ist

so viel geschehen, was ich Dir berichten muß, daß es eine lange Erzählung werden wird. Deine letzte Karte, daß Du in Hannover angekommen bist, hat uns noch erreicht. Jetzt ist es vom Engländer besetzt. Die Fronten rücken immer näher, die Verwandten sind verstreut im Lande. Ihre Häuser sind verbrannt. Auch auf Vatis Fabrik fand am 24.3.45 ein großer Angriff statt. Diesmal hatte er noch Glück. Das Werk wurde kaum getroffen , nur sein Wagen, neben dem er lag, hatte viele Löcher.- Das Osterfest war die letzte stille Feier in Prag. Zwar war Mutti müde und mutlos, dann riß sie sich aber zusammen, backte einen großen Hefezopf und Kekse, auf die sie Zusammenlegspiele klebte und mixte Marzipan.

Jeder von uns mußte suchen, und Vati versteckte so gut, daß der letzte Keks erst zwei Tage später gefunden wurde. – Bunte Bänder und gelbe Küken mit blauen Schwänzen schmückten den Kaffee- tisch. Jeder bekam ein blaues ein grünes und ein rotes Ei. In der Mitte stand ein Strauß von gelben Zweigen (den hatte Mutti im Park geklaut) und ringsherum Veilchensträuße (die hatte Vati bei der Fabrik gepflückt). Am Nachmittag kam Besuch, und Mutti las den Osterspaziergang vor. Ein wunderschöner Frühling war angebrochen , er ließ alle blauen Bänder flattern. ImRiegerpark blühten

Büsche und Bäume, und ein Duft von Wiesen und Wäldern zog an den lauen Abenden über die Dächer. Da fuhren wir an einem Sonnensonntag nach Rostak. Es war fürchterlich voll in der Bahn, aber der Ort war dann sehr hübsch. Wir machten einen Bummel durch das stille Tal, dann lagen wir auf einer Wiese, und ich versuchte zum ersten mal im Freien herum zu laufen. Dabei knipste mich Vati von allen Seiten. Ja, ich geh` jetzt wackelig aber allein. Große blaue Pump-hosen hat mir Mutti dazu genäht, und stundenlang übte ich und marschierte mit dem Elefanten in der Hand im Kreis im Bettchen. Zum ersten Male habe ich wie ein großes Mädchen am Tisch mitgegessen. Auch hier zog ich alle

Schlüssel raus (Türen).Wir waren sehr vergnügt (so schnell weine ich ja nicht, nach einem Klaps schimpf` ich in meiner Sprache) . Wir suchten Veilchen, und die Sonne brannte uns braun. – Als wir abends zurück kamen, überraschte uns die Mitteilung, daß aus politischen Gründung Frauen und Kinder abreisen könnten. Es war der 9. April 1945. Deine Juliane Obertraun Liebe Oma ! Nun wurde es schlimm. In wenigen Tagen wurde der Haushalt aufgelöst. Mutti war ganz verstört und Vati packte. Meine Spielsachen mußten dableiben.

Weiter geht es auf „Auf der Flucht“